Wissenschaftlicher Ansatz zum Sturzgrad und einer evidenzbasierten Empfehlungsdatenbank zur Sturzprävention
Inhaltsverzeichnis
- WISSENSCHAFTLICHER ANSATZ ZUM STURZGRAD UND FRAGEBOGEN
- EIGENE STUDIEN, ERGEBNISSE UND WISSENSCHAFTLICHE PARTNER
- WISSENSCHAFTLICHER ANSATZ ZUR PSYCHOLOGISCHEN ANALYSE
- STRUKTUR UND KRITERIEN DER EMPFEHLUNGSDATENBANK
- WISSENSCHAFTLICHE ANSPRECHPARTNER LINDERA
- LITERATURVERZEICHNIS
1. Wissenschaftlicher Ansatz zum Sturzgrad und Fragebogen
Gemäß aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse zufolge sollte eine Erfassung des Sturzrisikos über einen multifaktoriellen Ansatz erfolgen (Kikkert et al. 2017; Ibrahim et al. 2017; Park 2018). Der ermittelte Sturzgrad ergibt sich daher aus einem Algorithmus, der Risikofaktoren aus einer Mobilitätsanalyse sowie aus multidisziplinären Fragen zur Sturzrisikofaktoren kombiniert erfasst.
Für die in der App analysierte Mobilitätsanalyse steht der Proband von einem Stuhl auf, läuft eine Strecke von möglichst 3 m, dreht sich um 180° und läuft die Strecke zurück und setzt sich anschließend wieder. Zur Erfassung des Sturzrisikos analysiert der Algorithmus aus dieser Testaufgabe in Anlehnung an den in der Sturzprävention häufig eingesetzten und im Expertenstandard zur Erhaltung und Förderung der Mobiltät in der Pflege empfohlenen POMA Assessment (Performance Oriented Mobility Assessment, Tinetti 1986) die Schrittlänge, die Schrittgeschwindigkeit, die Schritthöhe und die Schrittsymmetrie des Seniors. Zudem werden auch die Oberkörpervorbeugung und die seitliche Abweichung der Wirbelsäule analysiert. Werden hierbei Auffälligkeiten gemäß der Tinetti-Klassifizierung des Gangbildes ermittelt, gilt die Mobilität des Patienten als eingeschränkt und wird als Risikofaktor gewertet. Zudem gilt die Mobilität des Seniors als eingeschränkt, wenn er den Test nicht durchführen kann oder mehrere Versuche benötigt um vom Stuhl aufzustehen (Hendrich et al. 2003).
Neben den Elementen der Mobilitätsanalyse berücksichtigt der Score zur Risikoerfassung zudem die Ergebnisse multidisziplinärer Fragen zu extrinsischen und intrinsischen Risikofaktoren. In einer aktuellen Metaanalyse empfehlen Park et al. 2018 (Park 2018) eine Kombination mehrerer validierter Screeninginstrumente. Der Fragebogen kombiniert daher die Risikofaktoren aus den folgenden empfohlenen Screeningsinstrumenten zur Sturzrisikoerfassung:
- STRATIFY Fall Risk Assessment Tool
- Hendrich- Sturzrisikomodell II
- Downton Fall Risk Assessment
Demnach analysiert der Fragebogen folgende Risikofaktoren:
Abbildung 1 Risikofaktoren die sich aus den validierten Tools zur Sturzrisikoerfassung ergeben
In der wissenschaftlichen Literatur besteht bisher kein Konsens über die Auswahl sowie eine Gewichtung einzelner Risikofaktoren. Um eine möglichst ganzheitliche Erfassung bekannter Sturzrisikofaktoren zu gewährleisten werden daher zusätzlich die folgenden evidenzbasierten Risikofaktoren erfasst (Schmidt 2016; Bloch et al. 2013; Ambrose et al. 2013):
Abbildung 2 zusätzlich erfasste Risikofaktoren
Zur Erfassung des Sturzrisikos wird ein Sturzgrad berechnet, der alle in der Analyse erfassten Risikofaktoren miteinbezieht. Hierbei werden die vorhandenen Risikofaktoren der validierten Screeninginstrumente zur Sturzrisikoerfassung doppelt gewichtet, alle weiteren evidenzbasierten Faktoren werden einfach gewichtet. Mit steigender Anzahl der ermittelten Risikofaktoren erhöht sich der Wert des Sturzgrades. Die Ausprägung des Sturzgrades liegt zwischen 0-100. Der Sturzgrad kann keine genaue Vorhersage zum Auftreten eines Sturzereignisses treffen, sondern lediglich das Ausmaß des Sturzrisikos auf Grundlage der ermittelten Risikofaktoren bewerten und über die analysierten Risikofaktoren informieren und darauf aufbauende individuelle Empfehlungen ausgeben. Die Berechnung des Sturzgrades ermöglicht zudem eine Bewertung zur Entwicklung der Risikofaktoren und des Sturzgrades über einen zeitlichen Verlauf hinweg.
Für eine zukünftige Bestimmung von Sturzwahrscheinlichkeiten entwickelt Lindera ein frequentistisches Modell. Es kann davon ausgegangen werden, dass mit einer wachsenden Stichprobengröße die Genauigkeit der Vorhersage eines Sturzereignisses steigt. Zur Bildung einer großen Stichprobe, bekommt Lindera den Zugang zu Daten aus medizinischen Informationssystemen von über 1000 Pflegeheimen. Auf dieser Datengrundlage können dann die tatsächlichen Risikofaktoren und deren Gewichtungen statistisch ermittelt werden und somit die weitere Grundlage für die Berechnung der Sturzwahrscheinlichkeiten bilden.
2. Eigene Studien, Ergebnisse und wissenschaftliche Partner
Die kontinuierliche wissenschaftliche Evaluierung der Lindera Mobilitätsanalyse ist ein die Basis der Produktentwicklung. Dazu arbeitet Lindera deutschlandweit mit verschiedenen wissenschaftlichen unabhängigen Einrichtungen zusammen. Wesentliche Forschungsfragen sind die Validierung des Sturzgrades, der Ganganalyse und die Überprüfung der Akzeptanz, des medizinischen Nutzens und Verfahrens- und Strukturverbesserungen durch die Nutzung der Mobilitätsanalyse in verschiedene Settings. Tabelle 1 gibt eine Übersicht unserer abgeschlossenen, der aktuell laufenden und der geplanten Studien sowie der wissenschaftlichen Partner.
Tabelle 1 Übersicht der abgeschlossen, laufenden und geplanten Studien zur Lindera Mobilitätsanalyse
Studie | Ergebnisse/Endpunkte | Kooperationspartner, Anmerkung |
---|---|---|
Abgeschlossene Studien | ||
1.1) Validierung der Bewegungsanalyse – Gelenkwinkel | Lindera v2-Algorithmus zeigt exzellente Messgenauigkeit der Gelenkwinkel im Vergleich zum CMU Panoptic Studio Datensatz (3-D Multikamera System, Goldstandard); analyse von 10 Videosequenzen (ICC Werte: 0.901-0.977) | Charité, AG Alter und Technik, submission in JMIR mHealth and uHealth |
1.2) Deskriptive Evaluation und Trennschärfe des Sturzgrades retrospektiv | Trennschärfe Sturzgrad, Stichprobe n=242 (Alter: 84,6 ± 6.7; weiblich 169 (69,3 %)) AUC = 0.86, sensitivity = 93 specificity = 58% accuracy = 73% | Charité, AG Alter und Technik, Prof. Dr. Wolfgang Pommer, submitted in im JMIR Aging; ongoing review process |
1.3) Akzeptanzbefragung im Rahmen eines AOK Nordost Pilotprojektes | Gute Akzeptanz der Analyse und der Empfehlungen bei Senioren und Pflegekräften | AOK Nordost, https://www.aerztezeitung.de/praxis_wirtschaft/e-health/article/985074/health-app-aok-nordost-setzt-allianz-lindera-fort.html |
1.4) Validierung der Bewegungsanalyse – Gangparameter | Messgenauigkeit der Gangparameter von Lindera v3-Algorithmus, Stichprobe n=44 (Alter: 73.9 ± 6.1; weiblich 22 (50 %)) Für die Ganggeschwindigkeit schon abgeschlossen mit exzellenter Messgenauigkeit (ICC Werte: 0.915 – 0.989). | Charité, AG Alter und Technik, Vorbereitung der Publikation im Journal Nature |
Aktuell laufende Studien | ||
2.1) Deskriptive Evaluation und Trennschärfe des Sturzgrades retrospektiv | Prospektive Trennschärfe | Charité, AG Alter und Technik, Prof. Wolfgang Pommer |
Geplante Studien | ||
3.1) Optimierung der aktuellen state-of-the-art Computer Vision Algorithmen | Lindera Algorithmus durch erneutes Trainieren der zu Grunde liegenden neuronalen Netze auf Basis von mehr Bewegungsdaten und verbesserter Trainingsprozeduren. Optimierung und Evaluation der Genauigkeit und der Laufzeit. | Charité, AG Alter und Technik |
3.2) Akzeptanz und Wirksamkeit im Setting Pflegeberatung | Akzeptanz und Zufriedenheit der Senioren und Pflegeberater, Evaluation von Leistungsdaten hinsichtlich der Wirksamkeit | spectrumK, Bosch BKK, InGef – Institut für angewandte Gesundheitsforschung Berlin |
3.3) Akzeptanz und Wirksamkeit im Setting stationäre Pflege | Akzeptanz bei Pflegekräften und Senioren, Wirksamkeit hinsichtlich Reduktion des Sturzgrades, Anzahl der Stürze, Durchführung von Präventionsmaßnahmen und Gruppeninterventionen | SBK, AOK, Charité, AG Alter und Technik |
3.4) Akzeptanz und Wirksamkeit im Setting stationäre Pflege | Akzeptanz bei Pflegekräften und Senioren, Evaluation der Wirksamkeit hinsichtlich Sturzgrad, Sturzrate, Lebensqualität | Barmer, Wilhelm Löhe Hochschule, Prof. Dr. Jürgen Zerth, Charite |
3.5) Substudie im Rahmen der multizentrischen Sturzpräventions-Entaier Studie | Validierung der Fragebogenelemente gegenüber standardisierten Assessments der Geriatrie, Längsschnittevaluation von Interventionen zur Sturzprävention | Universität Witten/Herdecke, Institut für Integrative Medizin |
3.7) Validität und Verfahrens- und Strukturverbesserung der Mobilitätsanalyse | Validität im Vergleich zu analogen Instrumenten zur Sturzrisikoerfassung, Zeiteffizienz | Charité, AG Alter und Technik |
Validität der Bewegungsanalyse und des Sturzgrades
Studien zur Validierung der Bewegungsanalyse (Studien 1.1 und 1.4) konnten eine exzellente Messgenauigkeit der Lindera Algorithmen zur Erfassung der Gelenkwinkel und Gangparameter zeigen. Der Lindera v3-Algorithmus zeigt exzellente Messgenauigkeit verschiedener Gangparameter im Vergleich zum validen Referenzsystem GAITRite (Gangteppich auf Drucksensorbasis, Goldstandard). Im Rahmen einer Studie mit 44 gesunden Senioren legten die Probanden eine Laufstrecke von 5 m jeweils dreimal in Ihrer selbstgewählten präferierten Ganggeschwindigkeit und dreimal in einer schnellen Ganggeschwindigkeit zurück. Die gemittelten ICC Werte der evaluierten Gangparameter sind in Tabelle 2 dargestellt. Darüber hinaus zeigen die ermittelten Inter-Trial-Reliability Werte für den Vergleich zwischen den drei Einzeldurchläufen eine exzellente Reliabilität (Wiederholbarkeit) des Lindera v3-Algorithmus (siehe Tabelle 3).
Tabelle 2 Interklassenkorrelationen (ICCs) für verschiedene Gangparameter im Vergleich zum validen Referenzsystem GAITRite, Hand Camera = in der Hand gehaltenes Smartphone, Stand Camera = auf einem Stativ befestiges Smartphone
ICC Lindera Algorithmus (Hand Camera) | ICC Lindera Algorithmus (Stand Camera) | |
---|---|---|
Ganggeschwindigkeit | 0.972 | 0.984 |
Schrittlänge links | 0.922 | 0.938 |
Schrittlänge rechts | 0.915 | 0.938 |
Schrittzeit links | 0.955 | 0.941 |
Schrittzeit rechts | 0.955 | 0.959 |
Kadenz | 0.989 | 0.987 |
Tabelle 3 Inter-Trial-Reliability (ICC(A,3)) für verschiedene Gangparameter im Vergleich der drei Durchläufe, Hand Camera = in der Hand gehaltenes Smartphone, Stand Camera = auf einem Stativ befestiges Smartphone
ICC(A,3) Lindera Algorithmus (Hand Camera) | ICC(A,3) Lindera Algorithmus (Stand Camera) | |
---|---|---|
Ganggeschwindigkeit | 0.925 | 0.945 |
Schrittlänge links | 0.905 | 0.930 |
Schrittlänge rechts | 0.910 | 0.930 |
Schrittzeit links | 0.895 | 0.895 |
Schrittzeit rechts | 0.860 | 0.865 |
Kadenz | 0.920 | 0.920 |
Zur Untersuchung der Trennschärfe des Sturzgrades wurde ein Studiendesign herangezogen, in dem ein Mittelwert aus 5 statistischen Klassifikationsmodellen errechnet wurde (Studie 1.2). Hierbei zeigte sich eine im Mittel sehr hohe Sensitivität von 93 % des Sturzgrades. Die Spezifität lag bei 58 %. Eine geringere Spezifität ist im Rahmen eines Präventionsinstrumentes vertretbar, da präventive Maßnahmen kein Gesundheitsrisiko darstellen. Der gemittelte AUC Wert (Area under the curve) liegt bei 0.86 (siehe Abbildung 3). Der AUC Wert bemisst die Qualität eines Assessments. Folglich zeigt der Sturzgrad eine gute Trennschärfe. Die Werte zur Sensitivität, Spezifität und AUC sind vergleichbar zu bisherigen als valide geltenden Fall Risk Assessments (Park et al. 2018). Die Ergebnisse der Studie sind aktuell im Revision Process des Journal of Medical Internet Research Nursing (Rabe et al. 2019).
Abbildung 3: Receiver Operating Curves der 5 statistischen Modelle; AUC = Area under the Curve; GB = Gradient Boosting ; GNB =Gaussian Naive Bayes; LG = Logistic Regression; RF = Random Forrest Classification ; SVC = Support Vector Classification
Im Zuge einer anwenderorientierten Weiterentwicklung des Produktes werden künftig weitere Studien zur Technikakzeptanz und zur Usability der Anwendung in Kooperation mit Forschungsinstituten durchgeführt werden. Auch werden aktuell wissenschaftlich fundierte Strategien zur Steigerung der Adhärenz der empfohlenen Maßnahmen in die Anwendung integriert und im Nachgang evaluiert werden.
Evaluationsergebnisse im Rahmen eines Projektes mit der AOK Nordost
Hierzu liegen die Ergebnisse von 112 Pflegebedürftigen vor, die im Rahmen des Projektes die Lindera Mobilitäsanalyse wiederholt genutzt haben. Für die Befragung wurden standardisierte Fragebögen genutzt. Die Ergebnisse zeigen eine gute Akzeptanz der Mobilitätsanalyse sowie auch einen hohen Grad der Umsetzung von Präventionsmaßnahmen.
Ebenso liegen die Ergebnisse einer Befragung von 37 Pflegefachkräften vor. Hier stimmten 81 % zu, dass die Empfehlungen aus der Lindera Mobilitätsanalyse einen mittelbaren, präventiven Effekt auf die Häufigkeit von Stürzen und sturzbedingten Verletzungen haben. Dabei hielten 82 % der Befragten insbesondere die wiederholte Durchführung der Mobilitätsanalyse für effektiv. Gestützt werden diese subjektiven Berichte auch durch objektive Daten aus der Lindera-Datenbank: Im Durchschnitt hat sich der Sturzgrad von Erst- zu Folgeanalyse statistisch signifikant um 11 % reduziert (von 27,19 auf 24,27, basierend auf 112 Datensätzen). Diese Reduktion zeigt sich als statistisch signifikant (p ≤ 0.05).
3. Wissenschaftlicher Ansatz zur psychologischen Analyse
Das Persönlichkeitsprofil der Lindera App baut auf dem empirisch und theoretisch fundierten sowie weit verbreiteten „Big Five“ Modell der Persönlichkeit auf (Costa & McCrae, 1992; McCrae & Costa, 2008). Dieses Modell beschreibt die einzigartigen Muster im Denken, Fühlen und Verhalten, die eine Person ausmachen, anhand von fünf grundlegenden Eigenschaften, die jeder Mensch in unterschiedlicher Ausprägung besitzt: Neurotizismus beschreibt, wie nervös und ängstlich jemand ist, Extraversion, wie sozial und gesprächig, Offenheit gibt an, wie neugierig, flexibel, und offen für Neues eine Person ist, Verträglichkeit, wie kooperativ, freundlich und altruistisch und Gewissenhaftigkeit beschreibt, wie ordentlich, strukturiert und zielstrebig jemand ist. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die individuelle Ausprägung eines Menschen auf diesen fünf Dimensionen eng mit seinen Lebensumständen, seiner Gesundheit, seiner mentalen und physischen Fitness, sowie mit seinem Wohlbefinden verbunden ist (DeNeve & Cooper, 1998; Hampson & Friedman, 2008; Malouff, Thorsteinsson, & Schutte, 2005; Rhodes & Smith, 2006; Roberts, Kuncel, Shiner, Caspi, & Goldberg, 2007; Schmutte & Ryff, 1997).
Erhebung der Big Five Persönlichkeitseigenschaften
Aufgrund der hohen Popularität des Big Five Persönlichkeitsmodells gibt es mehrere gut validierte Fragebögen zur Erhebung der dem Modell zu Grunde liegenden Persönlichkeitseigenschaften. Der Persönlichkeitsfragebogen der Lindera App baut auf dem so genannten International Personality Item Pool (IPIP: https://ipip.ori.org/) auf. Der Vorteil dieses Fragebogens ist, dass er bereits für die Nutzung bei älteren Stichproben validiert wurde und auch bei Hochaltrigen eine sehr gute Testgüte aufweist (Gow, Whiteman, Pattie, & Deary, 2005). Für die Nutzung im Rahmen der Lindera App haben wir zunächst aus dem längeren Fragebogen die Items (d.h., Fragen) ausgewählt, die eine hohe Kontentvalidität für unseren Anwendungsbereich aufwiesen, das heißt diejenigen Aspekte der Big Five Eigenschaften wiederspiegeln, die im Pflegekontext besonders relevant sind. In einem zweiten Schritt haben wir die Formulierung der Items so vereinfacht, dass sie besonders leicht verständlich sind, das heißt doppelte Verneinungen oder doppeldeutige Formulierungen wurden umformuliert. In einem dritten Schritt haben wir die resultierenden 10 Items von Lindera Nutzern in einem Pilotprojekt ausfüllen und auf ihre Verständlichkeit und Angemessenheit überprüfen lassen. Items, die als zu komplex oder missverständlich empfunden wurden, wurden basierend auf diesem Nutzerfeedback weiter optimiert.
Validierung der Testgüte des Lindera Persönlichkeitstests
Basierend auf Daten von 50 Nutzern aus einem Pilotprojekt weist der Lindera Persönlichkeitstest außerdem eine gute Testgüte auf: Die interne Konsistenz der fünf Persönlichkeitsdimensionen, ein Maß für die Reliabilität des Fragebogens, liegt zwischen .58 und .76 und ist somit vergleichbar mit anderen etablierten Kurztests (Lang, John, Lüdtke, Schupp, & Wagner, 2011; Rammstedt & John, 2007).
Anwendung: Persönlichkeit in der Pflege
Das Persönlichkeitsprofil der Lindera App erfüllt mehrere Ziele. Es dient zunächst dazu, in einem zumeist defizitorientierten Bereich einen individuellen Zugang zu den Menschen zu finden, der ihre Einzigartigkeit in den Vordergrund stellt und ihnen damit das Gefühl vermittelt, mehr als nur die Summe ihrer Diagnosen zu sein. Darüber hinaus dienen die Persönlichkeitsinformationen der Optimierung unserer Empfehlungen. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass der Erfolg von Interventionen steigt, wenn diese an die persönlichen Eigenschaften und Vorlieben der Zielpersonen angepasst und entsprechend vermittelt werden (Chapman, Hampson, & Clarkin, 2014; Notthoff & Carstensen, 2014; O’Connor, Warttig, Conner, & Lawton, 2009). Entsprechend nutzt Lindera Persönlichkeitsdaten, um Interventionen passgenau auf die Nutzer abzustimmen und so die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung zu maximieren.
4. Struktur und Kriterien der Empfehlungsdatenbank
Die Inhalte der Empfehlungsdatenbank werden anhand der Risikofaktoren strukturiert ausgewählt. Demnach werden jedem Risikofaktor passende Empfehlungen zugeordnet. Dazu wurden die relevanten Fachdatenbanken (MEDLINE, EMBASE, Cochrane Libary, CINAHL) nach geeigneten Präventionsmaßnahmen durchsucht. Zudem wurden auch Präventionsmaßnahmen aus dem Expertenstandard zur Sturzprophylaxe integriert (Schmidt 2016). Die Ergebnisse dieser Recherche wurden als Textbausteine in die Empfehlungsdatenbank integriert. Neben der Beschreibung der Präventionsmaßnahmen enthalten die Textbausteine auch Informationen zum potentiellen Nutzen der Empfehlungen, da diese Strategie die Akzeptanz der Empfehlungen bei Senioren erhöhen kann (Yardley et al. 2006, McInnes et al. 2004).
Zudem werden die den Risikofaktoren zugeordneten Empfehlungen vier Kategorien zugeordnet:
- Ärztliche Maßnahmen
- Therapien, Heilmittel, wohnumfeldverbessernde Maßnahmen
- Eigenständig durchführbare Empfehlungen
- Geeignete Produkte
Dadurch können individuelle Schwerpunkte in der Auswahl der Präventionsmaßnahmen getroffen werden.
Zur Individualisierung der Empfehlungen werden an jeden Empfehlungsbaustein Bedingungen geknüpft. Dabei berücksichtigt der zugrundeliegende Algorithmus z.B. die Wohnform, den kognitiven Status, die eigenständige Mobilität oder die Sturzvorgeschichte des Seniors als Grundlage für die individuelle Auswahl geeigneter Präventionsmaßnahmen. Da der Erfolg von Präventionsmaßnahmen nicht nur von der medizinischen, sondern auch von der psychologischen Passung abhängt (Chapman et al., 2014), berücksichtigen wir außerdem die in unserem Persönlichkeitstest erfassten individuellen Eigenschaften, Bedürfnisse und Vorlieben der Senioren. Gibt ein Senior beispielsweise an, sehr kontaktfreudig zu sein und sich in großen Gruppen besonders wohl zu fühlen, empfehlen wir bevorzugt sportliche Aktivitäten in Gruppen (cf. Emmons, Diener, & Larsen, 1985). Heimübungen werden hingegen vor allem dann empfohlen, wenn der betreffende Senior sich durch ein hohes Maß an Gewissenhaftigkeit auszeichnet, was für die regelmäßige selbstständige Durchführung von Heimübungen eine wichtige Grundvoraussetzung darstellt (Wiebe & Christensen, 1996). Durch die Berücksichtigung dieser vielfältigen Faktoren sollen praxistaugliche Empfehlungen, welche die individuelle Lebenssituation, die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Seniors miteinbeziehen, ausgewählt werden (Mc Innes 2004, 2011).
Um die wissenschaftliche Begründbarkeit der angegebenen Empfehlungen zu gewährleisten wird der zugrundeliegende Evidenzgrad der Empfehlungen berücksichtigt (Centre for Evidence-Based Medicine 2011). Empfehlungen mit einem höheren Evidenzgrad erhalten eine erhöhte Priorität bei der Auswahl der Empfehlungen.
Die Inhalte der Empfehlungsdatenbank sowie die Bedingungen zur Individualisierung der Empfehlungen werden in einem fortlaufenden Prozess mit Ärzten, Pflegefachkräften, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Krankenkassen und wissenschaftlichen Partnern diskutiert und weiterentwickelt.
5. Wissenschaftliche Ansprechpartner Lindera
Klinische Fragestellungen
Dr. Hester Knol
Data Science und KI-basierte Fragestellung
Dr. Arash Azhand
Psychologische Fragestellung
Dr. Swantje Müller
Ambrose, A. F., Paul, G., Hausdorff, J. M. (2013). Risk factors for falls among older adults: A review of the literature. Maturitas, 75, 51–61. https://doi.org/10.1016/j.maturitas.2013.02.009 .
Bloch, F., Thibaud, M., Tournoux-Facon, C., Brèque, C.; Rigaud, A., … Kemoun, G. (2013). Estimation of the risk factors for falls in the elderly: Can meta-analysis provide a valid answer? Geriatrics & Gerontology International, 13, 250–263. https://doi.org/10.1111/j.1447-0594.2012.00965.x .
Centre for Evidence-Based Medicine (2011). The Oxford 2011 Levels of Evidence. Online verfügbar unter https://www.cebm.net/2016/05/ocebm-levels-of-evidence/, zuletzt geprüft am 13.04.2017.
Chapman, B. P., Hampson, S., & Clarkin, J. (2014). Personality-informed interventions for healthy aging: Conclusions from a national institute on aging work group. Developmental Psychology, 50, 1426–1441. https://doi.org/10.1037/a0034135
Costa, P. T., & McCrae, R. R. (1992). Revised NEO Personality Inventory (NEO-PIR) and NEO Five-Factor Inventory professional manual. Odessa, FL: Psychological Assessment Ressources.
DeNeve, K. M., & Cooper, H. (1998). The happy personality: A meta-analysis of 137 personality traits and subjective well-being. Psychological Bulletin, 124, 197–229.
Emmons, R. A., Diener, E., & Larsen, R. J. (1985). Choice of situations and congruence models of interactionism. Personality and Individual Differences, 6, 693–702. https://doi.org/10.1016/0191-8869(85)90080-7
Gow, A. J., Whiteman, M. C., Pattie, A., & Deary, I. J. (2005). Goldberg’s “IPIP” big-five factor markers: Internal consistency and concurrent validation in Scotland. Personality and Individual Differences, 39, 317–329. https://doi.org/10.1016/j.paid.2005.01.011
Hampson, S. E., & Friedman, H. S. (2008). Personality and health: A life span perspective. In O. P. John, R. W. Robins, & L. A. Pervin (Eds.), The handbook of personality (3rd ed., pp. 770–794). New York, NY: Guilford Press.
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Kikkert, L. H. J., Groot, M. H. de, van Campen, J. P., Beijnen, J. H., Hortobágyi, T., … Lamoth, C. C. J. (2017). Gait dynamics to optimize fall risk assessment in geriatric patients admitted to an outpatient diagnostic clinic. PloS one, 12, e0178615.
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Malouff, J. M., Thorsteinsson, E. B., & Schutte, N. S. (2005). The relationship between the five-factor model of personality and symptoms of clinical disorders: A meta-analysis. Journal of Psychopathology and Behavioral Assessment, 27, 101–114. https://doi.org/10.1007/s10862-005-5384-y
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Notthoff, N., & Carstensen, L. L. (2014). Positive messaging promotes walking in older adults. Psychology and Aging, 29, 329–341. https://doi.org/10.1037/a0036748
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Thaler-Kall, K., Peters, A., Thorand, B., Grill, E., Autenrieth, C. S., Horsch, A., Meisinger, C. (2015): Description of spatio-temporal gait parameters in elderly people and their association with history of falls: Results of the population-based cross-sectional KORA-Age study. BMC Geriatrics, 15, 32. https://doi.org/10.1186/s12877-015-0032-1 .
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